Evangelisch-Lutherischer Dekanatsbezirk Rosenheim

Das übersehene tote Kind, oder: Das salomonische Urteil (1 Kön 3,16-18)

Das übersehene, tote Kind oder:
Das salomonische Urteil (1 Kön 3,16-28)

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Diese Geschichte ist berühmt, das berühmteste Urteil vielleicht der Literatur. Heute wäre solch ein Vorgehen weder möglich noch nötig, denn es gibt ja Gentests, mit denen eine Mutterschaft wie eine Vaterschaft bewiesen oder abgewiesen werden kann.
Aber geht es wirklich darum?

Nun, in der biblischen Tradition scheint es zunächst weniger um die Mütter und das Kind, als um den König Salomo zu gehen.
Im Kontext geht es darum, dass Gott – wie im Märchen oft eine Fee – Salomo im Traum erscheint und ihm eine Bitte freistellt.
Und Salomo bittet weder um ein langes Leben, noch um Reichtum, noch darum, dass seine Feinde beseitigt werden – sondern er bittet Gott um Urteilskraft: er möchte verstehen, was gut und böse ist, er möchte ein guter Richter sein, der auf das Recht hören und es richtig anwenden kann.
Und weil er das bittet, gibt Gott ihm auch die anderen Dinge…

Und so ist das Urteil berühmt, weil es veranschaulicht, inwiefern Salomo eben ein kluger Richter mit eminenter Urteilskraft war.

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Aber mich interessieren doch auch die beiden Mütter, die beiden Frauen und ihre Kinder, und die beiden Kinder, nicht nur das lebende, sondern auch das tote Kind.

Was auffällt: die Väter spielen keine Rolle. Deshalb wohl heißt es, dass die beiden Mütter als Prostituierte ohne Männer in einem Haus, vielleicht einem Bordell, wohnen.

Normalerweise heißt: der Vater ist immer ungewiss (pater semper incertus est), die Mutter ist immer gewiss (mater semper certus est).
Hier geht es aber einmal nicht um die Vaterschaft, sondern um die Mutterschaft, darum, wer die echte und die rechte, oder die richtige Mutter ist.

Übrigens gibt es ein indisches Märchen aus derselben Zeit, das eine ganz ähnliche Geschichte erzählt, nur dass hier ein Papagei das Urteil fällt.
Der Unterschied ist freilich: im Märchen zwingt der Papagei die „falsche“ Mutter, die Wahrheit bzw. ihre Lüge preiszugeben.

Und daran fällt auf, dass in der biblischen Version etwas fehlt: das Geständnis der falschen Mutter. Und das scheint kein Zufall zu sein.

Es ist ja deutlich, dass sich die beiden Frauen überhaupt nicht unterscheiden. Zunächst auch nicht in dem, was sie tun und was sie sagen. Sie sagen beide dasselbe:
Das ist mein Kind; mein Sohn lebt, dein Sohn ist tot; nein, dein Sohn ist tot, mein Sohn lebt.

Und zunächst haben sie ja dasselbe Schicksal: sie bekommen ein Kind, sie bekommen jeweils einen Sohn, und offenbar ist unklar, wer der Vater ist – vielleicht sogar derselbe Kunde, wer weiß?

Und sie bekommen ihre Kinder fast zur selben Zeit, nur um drei Tage liegen die Geburtstage auseinander.

Und was auch gleich ist – und so selbstverständlich ist das gar nicht: sie wollen ihr Kind, ihren Sohn behalten. Sie freuen sich über seine Geburt. Sie wollen Mutter sein und bleiben.
Sie denken offenbar nicht an Abtreibung oder daran, ihr Kind zur Adoption freizugeben. So kämpfen sie um ihr Kind.
Und sie lieben in gewisser Weise beide ihr Kind.

Allerdings ist die Frage, ob sie auf dieselbe Art und Weise lieben.

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Wie aber das Leben spielt, wie das Schicksal so ungerecht wie eh und je zuschlägt: das Kind der einen Frau stirbt, woran auch immer, vielleicht am sog. Kindstod.
Hier beschuldigt die eine Frau die andere, sie habe es in der Nacht, „im Schlaf erdrückt“, also unabsichtlich getötet.

Wie auch immer, um Mord oder Totschlag geht es nicht.

Doch die Geschichte legt wenig Wert darauf, diese, die eigentliche Katastrophe, in den Mittelpunkt zu stellen.

Ich entsinne mich an eine Mutter, deren Kind behindert zur Welt kommt, kaum ein Überlebenschance hat, trotz einer Operation. Und sie erzählt, dass ihre Schwester ebenfalls schwanger ist, demnächst Mutter wird – und dass sie gegenseitig Patin des Kindes der Schwester werden sollten.
Wie soll man das seelisch verkraften?
Wie sollte man sich mitfreuen mit einem anderen Menschen, und sei es der eigenen Schwester, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringt, während das eigene krank ist und stirbt?

Kann man nicht wenigstens nachvollziehen, dass man neidisch ist, dass man das Kind einer anderen Mutter, einer anderen Familie gerne haben möchte – auch wenn es gar nicht das eigene ist?

Diese Schicksalsdimension kommt m.E. in der biblischen Geschichte zu kurz. Dabei steht das in der Tradition des ungerechten Segens bei Kain und Abel, bei Esau und Jakob, bei Lea und Rahel: immer sind es gerade Geschwister, bei denen der eine Teil „Glück“ hat, von Gott oder dem Schicksal bevorzugt wird, der andere Teil aber „Pech“ hat, von Gott oder dem Schicksal benachteiligt wird.
So wie die eine Mutter hier, deren Kind kurz nach der Geburt stirbt – und die nicht nur ihr Kind verliert, kaum dass es auf der Welt ist, sondern nebenan noch eine glückliche Mutter mit einem lebendigen Kind erlebt – und deshalb offenbar in Versuchung gerät, sich dieses Kind anzueignen, als wäre es das eigene, es der leiblichen Mutter wegzunehmen.

Auch wenn man es nicht akzeptiert und gut heißt, kann man es nicht ein wenig nachvollziehen und die Not respektieren, die darin steckt?

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Und deshalb scheint es mir nun doch wichtig zu sein, dass die biblische Version auf das Geständnis der falschen Mutter verzichtet. Denn dadurch bleibt letztlich offen, wer die leibliche Mutter ist.
Denn es könnte ja sein – wie gesagt: ein Gentest ist hier nicht möglich und auch nicht sinnvoll -, dass die richtige Mutter gar nicht die leibliche ist.

Die rechte und richtige Mutter ist nämlich genau die, die das Kind selbstlos liebt, die möchte, dass das Kind lebt, auch wenn sie es nicht hat, nicht in ihrem Arm, nicht in ihrem Bett, nicht in ihrer Wohnung, nicht in ihrem Haus.
Deshalb ist der entscheidende Satz der: denn ihr mütterliches Herz entbrannte in Liebe für ihren Sohn (1 Kön 3,26).

Ja, schon klar, wir lesen und hören das als Aussage über die leibliche Mutter. Aber wir können wissen, dass so ja nicht jede leibliche Mutter ihr Kind liebt. Es gibt Mütter wie Väter, deren Herz nicht in Liebe zu ihrem Kind entbrennt, warum auch immer.

Und es gibt Frauen und Männer, deren Herz in Liebe zu einem fremden Kind, einem fremden Menschen entbrennt. Und diese Liebe ist dann nicht narzisstisch, sondern eben selbstlos, man nennt sie auf griechisch auch Agape – im Unterschied zu Eros. Es ist die Liebe der Hingabe, nicht die des Begehrens. Sie will nicht in erster Linie etwas oder jemanden für sich, sondern will in erster Linie etwas für jemand, sein Glück.

„Liebe ist Freude am Glück des Anderen“ betonte der große Gelehrte Leibniz. Liebe ist nicht primär das Glück, jemanden zu besitzen.

Ob es das ist, das der kluge König Salomo erkennt? Jedenfalls gibt er das lebendige Kind der Mutter, die es am Leben lassen will, nicht der, die seinen Tod im Kauf nimmt, damit es gerecht aufgeteilt wird. Ob es die leibliche Mutter war?
Das ist wahrscheinlich – aber nicht sicher. Wer die leibliche Mutter ist, mag in der Regel sicher sein, aber wer richtig liebt, das ist erst einmal unsicher, das zeigt sich erst im konkreten Verhalten.

Und es kann sein, dass diese Liebe auch einem fremden Menschen, einem fremden Kind gegenüber möglich ist, und sei es dem Kind der eigenen Schwester.

5 (Kleiner Exkurs zum Trost)
Gehen wir für einen Moment davon aus: die leibliche Mutter des Kindes „gibt“ es der anderen Mutter, die ihr Kind verloren hat. Eben weil sie ihr Kind nicht nur geboren hat, sondern wirklich selbstlos (Agape) liebt.
Nun ist die Frage: kommt die „falsche“ Mutter, die ja ihr leibliches Kind verloren hat, über diesen Verlust hinweg? Dann lässt sie sich durch das andere Kind trösten. Doch das macht ihr totes Kind nicht wieder lebendig. Würde sie es auch ein wenig selbstlos lieben, bliebe der Teil ihrer Seele, der so liebt, untröstlich. Nur der „erotisch“ liebende Teil ihrer Seele ließe sich durch das andere Kind, das noch lebt, und das sie nun „hat“, trösten.
Und ebenso die andere, die echte Mutter: auch sie bliebe angesichts des toten Kindes, auch wenn es nicht ihr leibliches war, untröstlich; vielleicht untröstlicher als die leibliche Mutter des toten Kindes, die sich trösten lässt durch das andere, lebendige Kind.
Und ebenso die Schwester, deren Kind gestorben war, und die das Kind ihrer Schwester als Patenkind annimmt und liebt. Ihre Seele ist halb getröstet durch das andere Kind, halb bleibt es untröstlich.

Wahrer Trost würde hier in der Hilfe bestehen: dass das tote Kind doch wieder lebt, wie, wann und wo auch immer.

6
Von Max Goldt stammt der fulminante Satz:
„Neue Leute haben die damals nur kennengelernt, indem sie welche gebaren.“
Er ist gemünzt auf die mehr oder weniger guten wie schlechten alten Zeiten.
Er macht aber nebenbei und dann in der Hauptsache darauf aufmerksam, dass auch die eigenen, leiblichen Kinder zunächst und immer neue, ja fremde Leute sind. Sie muss man erst sowohl kennen wie lieben lernen. Wobei sich bei der Liebe, wie so oft, der Akzent zunächst auf dem Eros liegt, der begehrenden Liebe, die etwas für sich will, sich auf die Agape verlagert, die das Kind um seiner selbst willen liebt, wie fremd es auch bleibt oder wieder wird, und um dessen Glück man mehr besorgt ist als um das eigene.

Es ist die List der Familienvernunft ist, dass man exemplarisch an den eigenen Kindern lernt, neue und fremde Menschen zu lieben.

[Amen]

Rosenheim, 6. August 2023 Klaus Wagner-Labitzke

publ. am 4. August 2023