Gestillte Sehnsucht
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Fra Angelico: Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,25-35), Kloster San Marco, Florenz; Foto: KWL 2014
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Die Sehnsucht ist die einzig wahre Eigenschaft des Menschen.“ So hat der Philosoph der Hoffnung, Ernst Bloch, einmal gesagt.
Sehnsucht ist noch einmal etwas anderes als Hoffnung. Eine Hoffnung richtet sich auf etwas Bestimmtes: dass ich wieder gesund werde, dass ich ein Kind bekomme, dass der Krieg zu Ende geht, dass ich eine bessere Arbeit bekomme usw.
Aber auch dann, wenn meine Hoffnung in Erfüllung geht, kann es sein, dass meine Sehnsucht bleibt. Das kann ich daran merken, dass an die Stelle der erfüllten Hoffnung eine neue tritt.
Mag sein, dass unsere Sehnsucht in diesem Leben nie endgültig gestillt wird.
Im Portugiesischen heißt Sehnsucht saudade. Aber da stecken noch andere Bedeutungen darin, so dass man saudade gar nicht wirklich übersetzen kann – man muss dazu z.B. einen Fado hören, ein portugiesisches Lied: da schwingt Weltschmerz mit, Traurigkeit, Wehmut, Heimweh, aber auch Fernweh, sanfte Melancholie usw. Meist richtet sich die saudade auf die Vergangenheit, den geliebten Menschen, der fehlt, der abwesend ist, der nur noch in der Erinnerung da ist, wie die Heimat der Kindheit, die man nicht mehr finden kann.
Auch in Brasilien gibt es – natürlich – die saudade. Und sie wird dort ebenfalls besungen, im brasilianischen Portugiesisch.- Ob die Menschen in Brasilien etwas fröhlicher als in Portugal sind? Jedenfalls klingt dort die Musik leichter – und es gibt einen sog. Bossa Nova von João Gilberto, der heißt: Chega de Saudade – Schluss mit der Sehnsucht.
Der Sänger mag nicht mehr sich nur nach der Geliebten verzehren, sich an sie erinnern, sehnsüchtig, sondern sie soll endlich bei ihm sein, er will ihr mehr Küsse geben als es Fische im Meer gibt, er will sie so umarmen, dass sie an ihm klebt. Er will eben nicht die Sehnsucht – wie es vielleicht in der Romantik war – sondern die Geliebte selbst.
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Und da sind wir bei Simeon. Soll man von seiner Hoffnung sprechen, oder von seiner Sehnsucht?
Sie richtet sich jedenfalls nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. Und er scheint etwas Bestimmtes zu erhoffen:
Er will kein eigenes Kind, aber er wartet auf das Kind. Er hofft auf den Messias, den Gesalbten Gottes, der kommt und den Menschen vielleicht weniger die Erfüllung ihrer konkreten Hoffnungen bringt, als das Ende der Sehnsucht?
Ernst Bloch hat im Blick auf die Hoffnung von der Melancholie der Erfüllung gesprochen. Noch eine erfüllte Hoffnung hat ein Moment der Enttäuschung. Die Vorfreude bleibt die größte Freude. Denn jede Hoffnung hat wohl einen Überschuss an Sehnsucht, der bleibt, der nicht gestillt werden kann.
Mag sein, dass Simeon die Enttäuschung seiner Hoffnung erspart blieb, weil er, wenn er schon alt war, als Jesus geboren wurde, dessen frühen Tod mit Anfang 30 nicht mehr miterleben musste.
Aber vielleicht ist die Enttäuschung seiner Hoffnung nicht entscheidend, weil er in dem Kind beides sehen konnte: den Inbegriff seiner Sehnsucht wie ihr Gestilltwerden.
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Das sieht man seinem Gesicht an, wie es Frau Angelico in einer der Klosterzellen in San Marco, Florenz, gemalt hat.
Und wie das Kind ihn anschaut, Saudade und Glückseligkeit in einem gegenseitigen Sich-Anblicken.
Dabei weiß er, dass damit nicht das Paradies auf Erden angebrochen ist.
Und wenig einfühlsam prophezeit er den Eltern – der Maria zuerst – dass dieses Kind ihr Leiden bringen wird, dass durch ihre Seele ein Schwert dringen wird – wie es viele Darstellungen dann auch ganz buchstäblich gemalt haben, wobei aus der Seele das Herz geworden ist.
Also, die Hoffnung auf ein glückliches Leben wird enttäuscht werden – und doch wird die Sehnsucht bewahrheitet und gestillt.
Maria und Josef, die Eltern, geben ihr Kind aus der Hand – um es, wie ich mir vorstelle, anders zurück zu bekommen.
Es war vielleicht die Erfüllung ihrer Hoffnung, nun, aus den Händen Simeons erhalten sie es dann ein zweites Mal, als Inbegriff ihrer Sehnsucht, nein: der Sehnsucht der Menschheit, nicht nur ihrer eigenen.
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Von dem Philosophen Hegel gibt es eine einschlägige Geschichte:
Ein Mann wollte Obst, verschmähte aber Äpfel, Birnen, Kirschen. Er wolle keinen Apfel sondern Obst, keine Birne sondern Obst, keine Kirschen sondern Obst usw. Nun kann er naturgemäß Obst nur in Gestalt von Äpfeln oder Birnen oder Kirschen etc. kriegen. Es wäre also besser, er würde sich mit Äpfeln etc. begnügen.
Odo Marquard hat das auf die Suche nach Sinn übertragen: wer absoluten Sinn will, wird ihn nicht kriegen. Sinn pur, reinen Sinn gibt es nicht. Man muss ihn schon in dem suchen und finden, was das Leben bietet: Gespräche, Arbeiten, Faulenzen, Lesen, Spazierengehen, Lieben…
Und doch könnte im Wunsch nach Obst an sich, nach Sinn als solchem, der durch keine Beimischung von Sinnlosem verunreinigt ist, eine Wahrheit stecken. Simeon findet das anscheinend in dem Kind, das er in seine Arme nimmt und selig anschaut – und indem er von dem Kind seinerseits gesehen und angeschaut wird. Das genügt, damit er allem anderen in die Augen schauen kann, was ihm noch bevorsteht. Nichts, keine Melancholie der enttäuschten wie der erfüllten Hoffnungen, kann ihn mehr trennen von dem, was ihm hier aufgegangen ist, an erfüllter Sehnsucht.
Rosenheim, Lichtmess, 2. Februar 2023 Klaus Wagner-Labitzke