Evangelisch-Lutherischer Dekanatsbezirk Rosenheim

Die Eifersucht der Engel

Die Eifersucht der Engel

Foto: Der Engel des Gerichts, aus: Rogier van der Weyden, Das Jüngste Gericht, in: Hôtel de Dieu, Beaune/Burgund, Frankreich, Foto: KWL 2018

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Ein Engel führt im Munde, was der Inhalt der Weihnachtsbotschaft ist:

„Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden
den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lk 2, 14)

Wir, alle Menschen also, genießen das uneingeschränkte Wohlgefallen Gottes. So sehr, dass er selbst Mensch wird, geboren wird als Kind, stirbt als Erwachsener.

Der Titusbrief spricht so von der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes (Tit 3,4).
Und wie unwahrscheinlich ist das eigentlich?

Vielleicht müssten wir die Perspektive wechseln. Vielleicht müsste die Weihnachtsgeschichte aus der Sicht von anderen Lebewesen hören. Wie geht es ihnen damit, dass Gott uns Menschen so vorzuziehen scheint?

2
Da bieten sich zunächst die Tiere an.

Und auch wenn in der Weihnachtsgeschichte gar nicht von Ochs und Esel die Rede ist und von den Schafen nur indirekt wegen der Hirten, gehören sie doch dazu, wie jede Krippendarstellung es ganz zutreffend zeigt.

Wie empfinden die Tiere das eigentlich, dass es wieder nur um den Menschen geht?
Ob sie das so toll finden, dass ein Mensch in ihrer Krippe liegt? In ihrem Stall liegt? Ihren Platz belegt, sie verdrängt?

Ob sie nicht dagegen Einspruch erheben würden, dass Gott so Partei für die Menschen ergreift?
Sind die Menschen denn nicht auch nur besondere Tiere, die keine sein wollen, wie der Philosoph Markus Gabriel den Menschen definiert?

Unterstützt Gott nicht unsere Überheblichkeit, mit der wir uns über alle anderen Lebewesen erheben?

Wie steht es also mit der Freundlichkeit und Menschenliebe der Tiere?

3
Nun gibt es aber noch eine andere Art von Lebewesen, die in der Weihnachtsgeschichte eine Rolle spielen: die Engel.

Wir lieben Engel ja als Schutzengel, natürlich als unsere Schutzengel. Deshalb ist der Vers aus Ps 91,11-12 so beliebt.
„Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“
Billigen wir auch anderen Lebewesen ihre Schutzengel zu?

Ob die Engel das auch tun? Und ob sie das gerne tun? Manchmal hat man leise Zweifel, manchmal scheinen sie ihren Auftrag nicht wirklich ernst zu nehmen oder gar zu sabotieren…

Könnte es nicht sein, dsas Engel dazu erst bekehrt werden müssen zu dieser Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes?

Ich erinnere nur an den Anfang der 1. Elegie aus den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke:

„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen?
und gesetzt selbst, es nähme / einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem / stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, /
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“

Muss ich daran erinnern, dass die biblischen Engel oft sehr hart und grausam sich gegenüber den Menschen verhalten, ob auf nur auf Befehl Gottes, sei dahingestellt?

Und dann heißt es einmal im Neuen Testament ganz offen:
Denn er [Gott] nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. (Hebr 2,16)

Wie muss das auf die Engel wirken? Und auch noch an Weihnachten?

4
Was geht in den Engeln vor angesichts einer solchen Parteilichkeit Gottes?
Thomas Mann hat versucht, das in seiner Nacherzählung der biblischen Geschichte unter dem Titel Joseph und seine Brüder ausführlich zu kommentieren. Er hat dazu ältere, auch jüdische Traditionen aufgenommen.

Die Engel schütteln dort ständig irritiert den Kopf über Gottes Menschenfreundlichkeit. Denn der Mensch war „von Anfang an ein Gegenstand der Eifersucht der Engel“ . Th. Mann weiß, dass „deren wenig freundliche Gesinnung gegen den Menschen freilich von vorneherein feststeht.“

Und in einem wunderbaren Einfall legt Thomas Mann die Frage aus Ps 8,5 den Engeln in den Mund „Was ist der Mensch, o Herr, daß du sein gedenkest?“ Dort heißt es weiter:
„Du hast ihn [also nicht uns Engel] wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du [ausgerechnet] ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan […].“
Und leider nicht unter unsere, unter die der Engel, die wir das doch viel eher verdient hätten, könnten sie hinzufügen.
Und Gottes Antwort, wiewohl sie „schonend, begütigend, ausweilend, zuweilen auch gereizt“ ist, hat einen „für sie entschieden demütigenden Sinn“.

Denn worin besteht diese Antwort?
„»Die Engel«, so hatte sie gelautet, »sind nach Unserem Bilde geschaffen, jedoch nicht fruchtbar. Die Tiere dagegen, siehe an, sind fruchtbar, doch nicht nach Unserem Gleichnis. Wir wollen den Menschen schaffen, – ein Bild der Engel und doch fruchtbar!“

Darum also genügen weder die Tiere noch die Engel. Im Menschen sind aber Tiere und Engel vereint, wenn auch nicht immer versöhnt.

Der Mensch ist ein Mischwesen, sowohl Engel als auch Tier, und insofern erst, der Möglichkeit nach, das wahre, weil vollständige Ebenbild Gottes.

Das aber bedeutet eben: Die Tiere genügen nicht. Sie haben eine Seele, aber zu wenig Geist. Sie sind zu egozentrisch, auf sich bezogen, können sich nicht in andere Lebewesen hineindenken. So ist das eben mit der Seele, der es immer auch und zuerst um ihr eigenes Heil geht.

Die Engel aber haben zu viel Geist, dafür aber zu wenig Seele. Sie verstehen deshalb nicht, wie ein einzelnes Lebewesen so viel Aufhebens um sich machen kann, alles auf sich bezieht: die Tiere können nicht anders, aber der Mensch könnte schon, tut es aber nicht, nicht immer, zu wenig. Sie, die Engel aber, kümmern sich um das Allgemeine, für das der Geist steht.

Man könnte auch sagen:
Dass der Mensch eine Seele hat, verbindet ihn mit den Tieren; dass er Geist hat – oder besser: am Geist Anteil hat -, verbindet ihn mit den Engeln. Seele und Geist aber liegen im Menschen im Streit.

Die Seele ist ohne den Geist blind – wie die Tiere; der Geist aber ist ohne Seele leer – wie die Engel.

Die Engel sind deshalb Gott zu leer, zu sehr bloßer Geist, sehr moralisch vielleicht, aber blutarm, und sie neigen zur Unbarmherzigkeit, weil sie nicht wissen, was es heißt, nicht nur Geist, sondern verleiblichte Seele zu sein.

Und das ist die Pointe, dass Gott sich uns als Ebenbild erwählt, und dass er nun gar selbst Mensch wird, nicht Tier und nicht Engel.
Aber Engel und Tiere sind eingeladen, daran Anteil zu nehmen, die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes anzuerkennen und nachzuvollziehen.

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Denn immerhin: nach Paulus (Röm 8,19ff) warten die Tiere darauf, dass die Kinder Gottes, also die Menschen, offenbar werden, dass sie teilhaben an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, an ihrem Geist also.

Auch die Engel müssen, wenn sie vollständige Ebenbilder Gottes werden möchten, was ihr Ehrgeiz „nach oben“ ja nahe legt, barmherzig werden, also sich bekehren, in ihrem Fall: zum Menschen bzw. zur Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes.

Und wir erkennen doch auch: Bräuchten nicht die Tiere die Schutzengel heute mehr als wir Menschen?

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Und wir selbst? Können wir die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes überhaupt annehmen? Oder schlagen wir uns auf die Seite der eifersüchtigen, wütenden Engel? Abgesehen davon, dass wir uns gerne vormachen, wir wären wie die Türe, würden ganz im Hier und Jetzt wie die Kühe auf der Wiese grasend zufrieden sein im bloßen Dasein.

Die Engel bilden das „Reich der Strenge“, verkörpern, den reinen Geist, der Wut und Ärger angesichts der Welt, wie sie ist, empfindet. Hutter, S. 188).

Sind wir Menschen nicht tendenziell alle Wutbürger? Wir sind wütend auf uns, auf beides: auf das Tier in uns ebenso wie auf den Engel in uns. Oder wir hassen diese anderen Möglichkeiten des Lebens, die Tiere wie die Engel, weil wir beides sind, ohne beides immer in uns versöhnen zu können.

Die Frage an die Engel, ob sie die Menschenfreundlichkeit Gottes teilen, richtet sich auch an uns selbst. Glauben wir ihr, teilen wir sie? Nur wenn wir beides in uns, das Tierische und das Engelhafte, die Seele und den Geist versöhnen. Nur dann haben aber auch die Tiere eine Chance, ihre Schutzengel zu gewinnen, z.B. in uns selbst.

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Und Gott? Warum findet er es ausgerechnet im Menschen und seiner Zweideutigkeit? Warum braucht er überhaupt ein Ebenbild?

Der Mensch, so Thomas Mann, ist „ein Mittel zur Selbsterkenntnis Gottes […]. Demnach war der Mensch das Produkt von Gottes Neugier nach Sich selbst […].“

Gott macht sich die Wut der Engel nicht zu eigen. Immer weniger, wenn man sich die biblische Geschichte ansieht. Im Gegenteil. Er läuft über zum Menschen, trotz allem, was der anstellt.

An Weihnachten geht Gott noch weiter in dem, was Thomas Mann „das Fleischwerden des Höchsten“, seine Verleiblichung“ nennt.

Es geht um einen Ehrgeiz, der sich „nach unten“ richtet:
Gott will sich erniedrigen, will Mensch werden, will kennen lernen, was auch er nicht a priori, vor aller Menschwerdung kennen kann: was es heißt, ein leiblich-seelisch-geistiges Erdenwesen zu sein, eben ein Mensch.

Entscheidet sich in uns also auch das Wohl und Wehe der Tiere? Und kommt es über uns zu einer unwahrscheinlichen Solidarität über die Gräben hinweg zwischen Engeln und Tieren?

Foto: Der lächelnde Engel, Am nördlichen Portal der Westfassade der Kathedrale von Rheims, Champagne/Frankreich, um 1250, Foto: KWL

Rosenheim, Januar 2023 Klaus Wagner-Labitzke

publ. am 10. Januar 2023