Evangelisch-Lutherischer Dekanatsbezirk Rosenheim

Hänschen klein ging allein... und zurück

Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein … und zurück

1
Der Philosoph Volker Gerhard hat sich in seinem Buch über Gott daran erinnert, dass ihm immer schon das Lied Hänschen klein gefallen hat. Insbesondere dass es „in die weite Welt hinein“ geht, nicht hinaus. Ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Leider kannte ich das Lied, wie ich inzwischen weiß, früher und erst recht als Kind nur in einer verkürzten und deshalb verfälschten, nämlich ins Gegenteil verkehrten Fassung in einer Strophe. Die lautet:

Hänschen klein ging allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut steht ihm gut,
ist gar wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Da besinnt sich das Kind,
eilt nach Haus geschwind.

Da wird es mit der weiten Welt nichts. Kaum aufgebrochen, soll das kleine Hänschen schon wieder umkehren, weil seine Mama weint. Hätte ich mich daran gehalten, wäre ich kaum weiter zum Studium als bis nach Neuendettlsau gekommen, nach Tübingen wäre es wohl schon zu weit gewesen, und São Leopoldo, Sao Paulo, San Salvador de Bahia und Recife in Brasilien hätte ich nie erlebt.

2
In der Urfassung von Franz Wiedemann (1821-1882), die Volker Gerhard vielleicht kennt, ist das ganz anders. Und man erfasst, wie ein Unbekannter sie verstümmelte und ins Gegenteil verkehrte.

Hänschen klein ging allein
In die weite Welt hinein.
Stock und Hut steht ihm gut,
ist gar wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr!
„Wünsch dir Glück!“ Sagt ihr Blick,
„Kehr’ nur bald zurück!“

Sieben Jahr trüb und klar
Hänschen in der Fremde war.
Da besinnt sich das Kind,
Eilt nach Haus geschwind.
Doch nun ist’s kein Hänschen mehr.
Nein, ein großer Hans ist er.
Braun gebrannt Stirn und Hand.
Wird er wohl erkannt?

Eins, zwei, drei geh’n vorbei,
wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht: Welch Gesicht?“
Kennt den Bruder nicht.
Kommt daher sein Mütterlein,
Schaut ihm kaum ins Aug hinein,
Ruft sie schon: „Hans, mein Sohn!
Grüß dich Gott, mein Sohn!“

Hier geht das kleine Hänschen wahrhaftig in die weite Welt hinein. Und auch wenn die Mutter (was ist mit dem Vater?) weint, sie lässt ihn gehen. Ja, sie gibt ihm ihren Segen mit auf den Weg. Dass sie sich wünscht, dass er wieder zurückkommt, steht auf einem anderen Blatt.
Tatsächlich kommt er zurück, nach sieben Jahren, und d.h. hier, nach einer langen Phase, in der er erwachsen, ein anderer wird, nicht nur äußerlich.
So ist das Lied die Kurzfassung eines Home-Run, wie das im amerikanischen Baseball heißt. Ganz wie in einer der maßgeblichen Geschichten des Abendlands, der Odyssee von Homer, die erzählt, wie Odysseus nach vielen Jahren – erst 10 Jahre Krieg um Troja (das wird in der Ilias berichtet), dann noch einmal 10 Jahre Irrfahrten im Mittelmehr – wieder nach Hause, auf seine Insel Ithaka zurückkehrt. Wo er nicht einmal von seiner Ehefrau Penelope wiedererkannt wird; der Sohn Telemach war noch zu klein, als er seinen Vater verlor; nur seine Hebamme erkennt ihn, an einer Narbe am Bein, die er sich als Kind zugezogen hatte.
Ähnliche Lebensgeschichten vom Auszug und Einzug, vom Verlassen des Elternhauses und der Rückkehr, erzählt auch die Bibel. Etwa von Jakob, einem der Erzväter, der aber zunächst auch Sohn und Bruder war, im sog. Alten, vom sog. Verlorenen Sohn im Gleichnis Jesu Neuen Testament.

3
Im Krankenhaus treffe ich Menschen, die geblieben sind, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Im Ort, sogar im Elternhaus. Doch auch dann sind sie, wenn es gut gegangen ist, in die weite Welt hinein gegangen. Denn darauf kommt es im Leben an. Bei der Geburt erblicken wir nicht umsonst „das Licht der Welt“ – und nicht nur das Licht im Zimmer oder in Nürnberg oder Bayern.
Manche gehen aber buchstäblich in die Ferne und Fremde. Und manche kommen auch wieder zurück. Und wie das so ist beim Menschen und seiner seltsamen Identität: immer noch sind sie sie selbst und doch ganz anders. Und so stellt sich auch diese Frage: ob sie noch und wieder erkannt werden? Und von wem?
Oft war es in der Zeit nach dem sog. Zweiten Weltkrieg genau anders herum als im Lied: da kommt der Vater aus dem Krieg zurück, aus der jahrelangen Gefangenschaft vielleicht, und wird nicht mehr wiedererkannt, jedenfalls von dem Kind nicht, das ihn womöglich niemals oder nur kurz vor Jahren einmal gesehen hatte. Der eigene Vater erscheint als Fremder, den man erst kennenlernen muss.

Doch manchmal geht es schnell, und ein bekannnter, vertrauter Mensch wird einem auf einen Schlag oder allmählich fremd, durch eine Krankheit, einen Unfall, durch Demenz.

Es ist Vor- und Nachteil der Klinikmitarbeitenden zugleich: sie kennen einen Menschen so, wie er jetzt ist, wie er geworden ist. Sie messen ihn nicht an dem, was er war, wie er früher war: etwa als er gesund war, noch ohne Einschränkungen, ohne körperliche oder seelische oder geistige Verletzungen. Dafür aber ermessen sie nicht, was vielleicht zurückgelassen werden musste, was verloren ist, wie ein Leben auf den Kopf gestellt wurde.

Nun kann man das Leben insgesamt als Kreisbewegung verstehen: die Geburt als Ausgang in die Welt, den Tod als Eingang in den Ursprung, wie immer man ihn begreift. Dann wäre es etwa Gott, der einen empfängt mit diesen Worten: Ich, Gott, grüße dich, mein Sohn/meine Tochter.

4
In der Frankfurter Anthologie der FAZ lese ich ein Gedicht von John Donne (1572 – 1631): „Sein Bildnis“. Es handelt sich um ein Gedicht aus den jungen Jahren des Dichters, als er 1596/97 im Alter von 24 Jahren mit der Segelflotte des Grafen von Essex und Walter Raleigh nach Cádiz fuhr und diese spanische Hafenstadt mit plünderte. Später übrigens heiratete er und wurde auch noch Priester der anglikanischen Kirche.
Das frühe Gedicht handelt wie „Hänschen klein“ davon, dass er davonfährt und zurückkommt. Freilich geht es nicht um die Mutter, sondern um die geliebte Freundin, die er in dem Gedicht anspricht, während er Abschied nimmt und sie auf seine (mögliche) Wiederkehr einstimmt.

Sein Bildnis

Hier, nimm mein Bild, lebwohl, der Aufbruch drängt
(deins hab ich seelentief ins Herz versenkt).
Noch gleicht es mir: trifft mich der Tod, so steigt
durch unser beider Schattentum sein Preis;
und kehr ich heim, sonnengedunkelt, derb
die Hand vom rauhen Ruder, sturmgegerbt,
Gesicht und Brust ein Haarwald, und das Haupt
vom jähen Leidens-Rauhreif übergraut,
mein Leib ein Sack voll Knochen, schlecht vertäut,
die Haut mit Pulverflecken blau bestreut, -
reizt, was du liebst, dann der Rivalen Spott,
ein Mann, der ich dann schein, so wüst und grob,
so sagt dies, was ich war; und du sagst dann:
Trifft mich sein Mangel? Schmält er meinen Rang?
Und trübt er ihm das Auge, dass er heut,
was er am liebsten sah, zu sehen scheut?
Was einst an ihm gefällig war und fein,
war Milch, die Liebe in der Kinderzeit
zu stillen, doch sie wuchs und ist erstarkt:
Was sie jetzt nährt, scheint schwachem Biss zu hart.

Fast könnte man meinen, Franz Wiedemann habe dieses Gedicht gekannt. Jedenfalls sind die Protagonisten gerade auch ihre Hände, von der Sonne gebräunt, als sie zurückkommen aus der weiten Welt.

Doch der Dichter gibt beim Abschied seiner Geliebten ein Bild von sich als junger Mann, und die Frage ist, ob er noch so aussieht, wenn er zurückkommt, oder – siehe Oscar Wilde´s Das Bildnis des Dorian Gray – ob er sich so sehr verändert hat, dass er nicht mehr wieder erkannt werden wird – und trotzdem geliebt. Wobei die andere Möglichkeit besteht, dass er nur als Leiche zurückkehrt.
Und falls er noch lebt, könnte es immerhin sein, dass er alt und krank ist, also keineswegs mehr so aussieht wie hier und jetzt und auf dem Bild.
Deshalb legt er, prophylaktisch, seiner Geliebten schon einmal in den Mund, was sie sagen sollte, in Form eines „Mono-Dialogs“ (dialogue of one), wie Donne das nannte.
Der Anblick des Geliebten wird oder bleibt Nahrung der Liebe – und er verwendet hier das Bild des Apostels Paulus (aus 1 Kor 3,2): jetzt ist er nicht mehr Milch, wie Kinder sie trinken, sondern feste Speise für Erwachsene, für die kein schwacher, sondern ein starker Biss nötig ist. Und den erwartet er von ihr.

Denn das scheint mir die theologische Pointe von Donnes Gedicht zu sein: wie sind auch Nahrung für Gott, in Umkehrung des Abendmahls, der Eucharistie, wo Gott unsere Nahrung ist.

Manchmal ist es wie in diesem Gedicht: da kommt einer, weil er sterbenskrank ist, vielleicht gar aus der Nähe von Cádiz, wieder in seine alte, einst verlassene Heimat zurück. Und begegnet den Angehörigen. Wie gehören sie nun zusammen? Und wie nicht? Wer kümmert sich? Und wie?

Später formulierte Donne in einem berühmten Text, der nicht nur den Brexit vorwegzunehmen und zu kritisieren scheint, und der nicht nur den Umgang mit anderen als den eigenen Schicksalen bestimmen sollte.

John Donne, Kein Mensch ist eine Insel/ein Ichland
(No Man is an I[s]land) (1624)

Kein Mensch ist eine Insel,
ganz für sich allein;
jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents,
ein Teil des Ganzen.

Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird,
wird Europa weniger,
genauso als wenn’s eine Landzunge wäre,
oder das Haus deines Freundes oder dein eigenes.

Jedermanns Tod macht mich geringer,
denn ich bin verstrickt in das Schicksal aller;

und darum verlange nie zu wissen,
wem die Stunde schlägt;
sie schlägt für dich.

Beides gehört zusammen: dass ich ich bin, und nicht du oder er oder sie oder dies und das. Dass ich aber nicht isoliert bin von allen und allem anderen, sondern verbunden. Das kann man entdecken, wenn man in die weite Welt hinein geht. Und ebenso, wenn man zurückkehrt.

Rosenheim, November 2022 Klaus Wagner-Labitzke

publ. am 4. November 2022