Evangelisch-Lutherischer Dekanatsbezirk Rosenheim

Der Weg des Lebens führt durch drei Länder

Drei Länder des Lebens.
Zum Erntedankfest – 5. Mose 8,7-18

1
Hier ist von einem Lebensweg die Rede. Er betrifft ursprünglich ein Volk, das Volk Israel. Aber man kann das auch auf das einzelne individuelle Leben beziehen.

Es ist von drei Ländern die Rede, in denen das Leben sich abspielt. Und der Lebensweg führt vom ersten Land über das zweite ins dritte.

Das erste Land liegt in der Vergangenheit und heißt hier Ägypten.
Das zweite Land liegt in der Gegenwart und heißt Wüste.
Und das dritte Land liegt in der Zukunft und heißt das gute Land, oder – an anderer Stelle – das Land, darin Milch und Honig fließt, oder auch das Land Kanaan.

2
Das erste Land, Ägypten, ist das Land des Ursprungs. Dort wird das Volk Israel überhaupt erst geboren, dort entsteht es.
Es ist insofern das Land der Heimat. Das ist insofern paradox, weil wir wissen, dass Israel seine Heimat eben in Israel hat, im Land Kanaan. Doch dieses eigene Land, die eigentliche Heimat, wird erst gefunden, muss erst erobert und in Besitz genommen werden. In diese Heimat kommt das Volk Israel erst, indem es aus der Fremde zurückkehrt. Zunächst aber ist gerade die Fremde – nämlich Ägypten – die Heimat, der Ort der Entstehung, der Geburt des Volkes Gottes.
Einer der Erzväter, Jakob, war mit seinen Söhnen nach Ägypten gekommen, als in seinem eigenen Land eine Hungersnot herrschte. Aus diesen Söhnen (und Töchtern) wurde dort in Ägypten also das Volk Israel.

Ägypten ist also beides: das fremde Land für Jakob, seine Kinder und zugleich die Heimat für ihre Nachkommen. Und darüber hinaus ist es das Land der Knechtschaft, weil – wie es das Alte Testament schildert, das Volk Israel dort für den Pharao arbeiten mussten und unterdrückt wurden (so etwa 2. Mose 1,11f). Doch da sie immerhin materiell einigermaßen versorgt sind, werden sie sich später nach den sog. Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehen. Nämlich im zweiten Land, der Wüste.

Denn es ist eines, aus der Knechtschaft, aus der Herkunftswelt aufzubrechen; sie zu verlassen, alles hinter sich zu lassen, auszuwandern – und ein anderes, in das gelobte Land zu kommen. Das geht offenbar hier und vielleicht überhaupt nie direkt, ohne Umweg, ohne Verzögerung.

Der Weg führt nicht unmittelbar von Ägypten nach Israel, ins Land Kanaan, von der Knechtschaft in die Heimat, sondern dazwischen liegt eine Landschaft und eine Zeit des Übergangs, die hier als Wüste bezeichnet und erlebt wird.

Ist das nicht auch im individuellen Leben so?
Wir haben unsere Kindheit und Jugend hinter uns, die Zeit der Fleischtöpfe Ägyptens, der Geborgenheit vielleicht, des Elternhauses, der Schulzeit, wo alles einigermaßen geregelt war. Und wenn es gut ging, wenn das Elternhaus „gut genug“ war, war gut versorgt, aufgehoben – aber eben um den Preis der Unfreiheit.

Nun liegt das hinter uns. Aber man ist noch nicht dort, wo man hinmöchte, noch nicht angekommen, vielmehr noch unterwegs, also in der Wüste. Und die Wüste lebt, sie ist ja nicht tot und leer. Sie weitet den Blick.

Das zukünftige gute Land wird sehr anschaulich beschrieben, als Zeit der ständigen Ernte, als immerwährende Erntedankzeit:
Das gute Land hat Wasser genug, überall und von überall: Bäche und Quellen und Grundwasser und Regen- oder Schmelzwasser von den Bergen.
Es wächst und gedeiht alles: Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume, Granatäpfel, Ölbäume, Honig; es gibt Brot, Eisen, Kupfererz, alles da.

Da ist leicht Erntedank feiern: wenn man gegessen hat und satt ist und in schönen Häusern wohnt und alles hat, was zu einem erfüllten, reichen Leben nötig ist – dann darf und soll man Gott nicht vergessen, um ihm zu danken für das alles.

Aber, wie gesagt, dieses gute Land liegt in der Zukunft.

Es mag leicht sein, aus dem Paradies heraus zu kommen, aber es ist schwer, ins Reich Gottes hineinzukommen. Wobei das Paradies durch seinen Verlust entsteht. Erst im Nachhinein erkennt man, wie paradiesisch es bisher war. Adam und Eva jedenfalls war das Paradies nicht genug. Und umgekehrt erscheint einem das Land der frühen Knechtschaft (Ägypten) als Paradies – wenn man es für eine scheinbare Wüste verlassen oder verloren hat.

Was aber unterscheidet Ägypten vom gelobten Land? Was unterscheidet das Paradies vom Reich Gottes? Es ist die Freiheit. Die gibt es noch nicht im Land der Knechtschaft. Und die gibt es auch noch nicht in der Heimat, in der Herkunftsfamilie. Sogar die Liebe ist dort noch unfrei: die Liebe zu Vater und Mutter und zu den Geschwistern ist nicht selbstgewählt. Gerade deshalb muss man Vater und Mutter verlassen und sich aus freier Liebe an seine Frau oder seinen Mann hängen (1 Mose 2,24; Mt 19,5).
Das Reich Gottes wäre das Paradies plus Freiheit.

Tatsächlich sind wir, wie das Volk Gottes, weder im Paradies noch im Reich Gottes, weder in der engen Heimat noch im gelobten Land, sondern dazwischen, weder hier noch dort – spricht: in der Wüste.

Die ist „groß und furchtbar“. Hier gibt es „feurige Schlangen und Skorpione, lauter Dürre und kein Wasser“.

Nicht, dass man hier nicht leben könnte. Es herrscht sicher Mangel an vielem. Aber zugleich konzentriert auf das Wesentliche. Und immerhin, es gibt Oasen, Quellen, die unverhofft aus dem Felsen entspringen, es gibt zu Trinken und auch zu Essen, so die Geschichte vom Manna, und den Wachteln.

Erschreckend heißt es: Gott demütigt und versucht, „damit er dir hernach wohltäte“.

Man diskutiert ja, ob man das Vaterunser nicht umformulieren sollte. Statt „und führe uns nicht in Versuchung“ sollte man besser sagen
„Lass uns nicht in Versuchung geraten“ weil Gott nicht in Versuchung führen könnte.
Faktisch jedenfalls geraten wir in Versuchung, werden geprüft, von wem oder was auch immer.

Und darin besteht eine Versuchung: zu meinen und zu sagen, ich verdanke alles mir, meinen Erfolg (wie meinen Misserfolg?), meinen Reichtum (wie meine Armut?), meine Fülle (wie meine Leere?), mein Glück (wie mein Unglück?). Es ist meine Kraft und meine Stärke, denen ich alles verdanke.
Das ist fahrlässig und falsch. Denn allein dass ich stark bin, verdanke ich nicht mir.

Was immer ich bin und habe, ich verdanke es nicht mir, sondern Gott – und das lerne ich in der Wüste eher als in Ägypten oder im gelobten Land, weil ich die Erfahrung mache, es könnte auch fehlen und ich kann es mir nicht von selbst verschaffen. Bei allem Einsatz, bei aller Kompetenz, bei aller Stärke, bei allem Talent das ich habe, kann ich erkennen, dass ich all das bekommen habe.

Insofern ist die Wüste ein schrecklicher Ort, ein Ort des Mangels, des Verlusts, der Trauer, des Schmerzes – und doch auch ein Ort, an dem ich Entscheidendes kapieren kann.
Ich darf und soll alle Gaben der Natur und der Kultur nehmen – aber ich muss sie eben nehmen, kann sie mir selbst nicht geben. Ich nehme sie ja mit meinen Händen, und auch die habe ich mir nicht selbst gegeben, so wenig wie meine Füße, meinen Mund, meinen Magen, meine Nieren usw.

3
Und so wendet sich der Blick. Mag sein, dass auch mein Blick durch die Wüste geht, wie eines der Bücher Karl Mays treffend heißt, das Band 1 der Gesammelten Werke.
Und so warten wir hier, in der Wüste, auf das Wasser aus dem harten Felsen wie auf das Manna vom Himmel in der Wüste, um unseren Weg in die Freiheit gehen zu können. Und blicken zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, ohne zu vergessen, dass sie mit Unfreiheit erkauft waren. Und deshalb verzichten wir darauf, zurück zu kehren. Und blicken nach vorne ins gelobte Land, sehnen uns danach, nach der wahren Heimat „die allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ (Ernst Bloch ).
Das wäre ein Land „worin dir nichts mangelt“ , auch die Freiheit nicht, auch nicht die Fähigkeit Gott zu danken und zu loben, also auch nicht die Erinnerung an Den, „der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft“ in die Freiheit. Das mag die Wüste vorübergehend erträglich machen.

Rosenheim, Oktober 2022 Klaus Wagner-Labitzke

publ. am 19. Oktober 2022