Der Schrei der Möwe
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Wir waren kürzlich in Nordfrankreich an der Atlantikküste. Eigentlich zu erwarten, aber doch überraschend waren die allgegenwärtigen Möwen.
Das Seebad macht nicht umsonst Werbung mit einem Plakat des Zeichners Savignac, der auch selbst dort lebte, und das auch in unserem Hotelzimmer hing. Darauf sieht man eine braungebrannte Frau im Bikini auf dem Rücken am Sandstrand liegen, im Hintergrund das blaue Meer mit einem kleinen weißen Segelschiff. Sie hat die Beine angezogen und auf einem Knie sitzt eine weiße Möwe und schreit fröhlich „Trouville“.
Foto: Trouville, Sept. 2022, KWL.
Doch uns ins Auge und vor allem ins Ohr stach eine junge Möwe mit noch grauem Federkleid, die ständig – so jedenfalls war unsere Erklärung – ihre Mutter (oder war es der Vater?) bedrängte.
Möwen sind keine Singvögel. Sie schreien laut und aufdringlich. Dieser Jungvogel aber folgte seiner Mutter mit einem schwer zu ertragenden hohen Fipsen nicht nur überall hin, sondern rückte ihr ständig auf die Pelle bzw. das Federkleid. Suchte sie nur Kontakt oder wollte sie das Elternteil dazu bringen, ihr etwas zu essen zu geben, womöglich aus ihrem Schlund herauszuwürgen? Immerfort jedenfalls streckte sie ihren Kopf mit dem spitzen Schnabel der Mutter entgegen, bis auf wenige Zentimeter kam sie heran, und wohin sich die Muttermöwe auch drehte und wendete, das Jungtier folgte ihr. Und zwar so, dass sie sich einerseits demütig vor ihr niederbeugte, ihr andererseits aufdringlich unnachgiebig fordernd zusetzte. Um so verblüffender, dass die Mutter ihr nerviges Kind mit Engelsgeduld ertrug, wohl ab und an versuchte, sich wegzudrehen, aber nur manchmal flog sie wie genervt davon, aber vielleicht weniger, um ihr auf Zeit zu entkommen und ihre Ruhe zu haben, als nur, um Nahrung zu holen.
Dann blieb die junge Möwe alleine am Sandstrand zurück, hörte aber nicht auf auch stundenlang zu Fiepen, zugleich herzzerreißend erbarmungswürdig wie unerträglich auf die Nerven fallend. Nie aber wirkte sie glücklich oder auch nur zufrieden, nie lief oder flog sie fröhlich umher. Ein immerwährendes Wehklagen, ein ständiges fiepsendes Jammern. Zum Erbarmen.
2
Diese Szene kam mir in den Sinn, als ich las, und dazu den Hinweis im evangelischen Perikopenbuch, dass es hier um Dankbarkeit gehe, dass der Text die „Dankbarkeit als Grundhaltung der christlichen Lebensführung“ unterstreiche.
Das glaube ich nicht. Dankbarkeit ist nicht der Inbegriff der christlichen Grundhaltung. Und sie ist es auch in diesem Text nicht. Die biblisch-christliche Grundhaltung ist vielmehr eher veranschaulicht in der jungen Möwe ihrer Mutter gegenüber als Sinnbild unseres Verhältnisses zu Gott.
Natürlich ist nichts gegen Dankbarkeit zu sagen. Wunderbar, wenn man Glück hat und glücklich sein kann, wenn tiefe Wünsche in Erfüllung gehen, wenn man sich an den Gütern des Lebens erfreuen kann. So wie der eine Mann in Lk 17,15, der von seiner Krankheit geheilt wird.
Auch diese Geschichte von den zehn von ihrem Aussatz geheilten Männern wird oft als Beleg für die geforderte Dankbarkeitshaltung herangezogen. Unterschlagen wird dabei gerne, dass es um Dankbarkeit für Heilung geht, nicht um eine Grundhaltung an sich.
Denn das ist die normale und richtige Reihenfolge: man hat Glück oder ist glücklich und deshalb kann man dankbar sein.
Doch die heute Mode gewordene „Spiritualität der Dankbarkeit“ dreht das tendenziell um:
Nicht, weil und wenn ich glücklich bin, kann ich dankbar sein. Sondern ich soll glücklich werden, indem ich immer und überall dankbar werde, die Haltung der Dankbarkeit einübe. Und zwar, das ist der Weitz, unabhängig von bestimmten Wunscherfüllungen oder glücklichen Erfahrungen und Fügungen.
Man findet diese Weisheit in solchen Formeln:
- Ich soll lernen, das Glas halb voll zu finden, statt halb leer;
- wenn meine rechte Hand gelähmt ist, soll ich mich darüber freuen, dass die linke noch funktioniert;
- so hört man Seelsorger gerne sagen: „sei nicht traurig, dass dein Lebensgefährte gestorben ist, sondern sei froh und dankbar für die gemeinsame Zeit, die euch vergönnt war“;
- und jemand sagte sogar: wenn unschuldige Kinder sterben, dann nimm das dankbar als Motivation und Lernimpuls, etwas gegen solches Unglück zu tun.
Das entspricht dem, was man „Liebe zur Weisheit“ nennen kann, also eine Form der Philosophie. Und ohne die kommen wir wohl kaum nicht aus.
Denn dass ich glücklich oder wenigstens zufrieden bin, dazu kann es in der Tat helfen, meine Einstellung zum Leben, meine Haltung der Welt gegenüber zu ändern. Und das Gute daran ist, dass ich nicht ohnmächtig einem blinden Schicksal ausgeliefert bin. Und auch keinem Gott, der tut, was er will, der gnädig ist, wem er gnädig sein will, der meinen Schritt in eine Richtung lenken kann, wohin ich nicht will.
Die Einübung der Haltung der Dankbarkeit ist deshalb so attraktiv, weil sie mir verspricht, dass ich meines Glückes Schmied bin. Ich bin nicht mehr abhängig, nicht von dem, was mir im Leben begegnet, was ich habe oder verliere, und auch nicht von Gott, ob er meine Bitten erfüllt oder nicht. Ich muss nur richtig auf das schauen, was ich bin und habe, um glücklich zu werden, indem ich etwa Dankbarkeit lerne.
Auch von Gott bin ich dann nicht abhängig, muss ihn nicht ständig anbetteln wie die Möwe ihre Mutter.
Daher die bekannten Ratschläge, etwa jeden Tag drei Dinge zu nennen, für die ich dankbar sein kann.
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Und doch: konsequent wird Gott überflüssig. Er muss nichts tun für mich. Ich muss nur selbst umkehren und die richtige Haltung und Einstellung finden. Aber um welchen Preis?
Ich erinnere zunächst an das „Vaterunser“, das wir in jedem Gottesdienst beten.
Um Dank geht es hier überhaupt nicht, sondern angesichts der Klage über den faktischen Zustand des Lebens und der Welt insgesamt geht es um die Bitte an Gott, Er möge endlich den Zustand herbeizuführen, der Grund zur Dankbarkeit erst geben könnte.
Grund zur Dankbarkeit gibt es nach Jesaja noch nicht in der Gegenwart, sondern erst in der Zukunft. Und er nimmt diese glückliche, heile Zukunft vorweg, um damit an Gott zu appellieren wie die junge Möwe an ihre Mutter.
Man könnte es auch so sagen:
Gott, du willst doch, dass wir dir dankbar sind. Also erfülle unsere Sehnsucht, mach uns heil und gesund. Dann werden auch die anderen einsehen, dass Du uns nicht böse bist, sondern es gut mit uns meinst.
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Und so ist es oft in der Bibel: Gottes Hilfe und/oder Trost wird so sehr gefordert und beschworen, dass so geredet werden kann, als sei sie, die Hilfe, oder er, der Trost, schon ganz nahe. Und so kann man schon jetzt fast dankbar sein – aber nicht für das, was jetzt der Fall ist, sondern für das, was erst noch kommen kann – wie es im „Vaterunser“ heißt: dafür dass Gottes Reich kommt, sein Wille überall geschieht, nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden.
Noch ist es nicht so weit, aber wir lassen nicht locker, wie die Möwe am Strand, die ihrer Mutter auf die Federpelle rückt. Und die lässt es sich, zu unserer ständigen Verwunderung, gefallen.
So, wie es sich Gott gefallen lässt, dass wir ihm, auf die Nerven gehen mit unserer Bitte um Hilfe – und wenn es die – noch – nicht gibt, wenigstens um Trost.
Es stimmt schon: wir machen uns darin abhängig von Gott, gestehen, dass wir unser Glück nicht in der eigenen Hand haben. Aber darin bleiben wir erstens solidarisch mit denen, die sich im Unglück befinden.
Und bleiben in der Hoffnung, dass wir noch Zukunft haben, dass noch nicht aller Tage Abend ist, dass das Beste uns noch bevorsteht. Wie es Thomas Mann im Blick auf die Josephsgeschichte zusammenfasste: „Denn Zukunft ist Hoffnung, und aus Güte ward dem Menschen die Zeit gegeben, daß er in der Erwartung lebe.“
Der Prophet nimmt diese Zukunft gleichsam vorweg, und ruft deshalb vorweg zur Dankbarkeit auf, weil er Gott so dringend auffordert, seine „Pflicht“ zu tun, zu helfen oder zumindest zu trösten.

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Als wir am letzten Tag unsere Urlaubs Abschied nahmen – vom Meer, vom Strand, vom Hotel, von Trouville – saß die junge Möwe mutterseelenallein unter unserem Fenster auf der Dachrinne und piepste auf das offene Meer hinaus, voller Sehnsucht, voller Erwartung, voller Hoffnung. Sie wird im Gedächtnis bleiben, mehr noch als die große gutgelaunte Möwe auf Savignacs Poster.
Rosenheim, September 2022 Klaus Wagner-Labitzke